Dienstag, 6. November 2012

Sinnloser Tag



Amerika war für viele meine Vorfahren ein Sehnsuchtsort.

Um die vorletzte Jahrhundertwende emigrierte ein Schwung Ur-Tammoxe aus Galizien nach Pennsylvania, ein gutes halbes Jahrhundert später folgten noch mal einige aus Deutschland; diesmal ging es direkt nach New York.
Offensichtlich liegen Nationalismus und Patriotismus nicht so sehr in meinem genetischen Code. Selbst meine engere Familie ist über drei Kontinente verstreut.
(Nur ich falle etwas aus dem Rahmen und lege eine Periode der Sesshaftigkeit ein.)

Wenn ich mich an meine Kindheit zurück erinnere, spielte Amerika immer eine große Rolle. Wer gerade nicht dort war, wollte dorthin zurück oder gab mit einem Seufzer beim Einkaufen „Amerika, du hast es besser“ von sich.
Ich war gewillt das zu glauben, denn aus den Staaten kamen immer diese tollen Pakete mit Geschenken für uns Kinder.

Als ich anfing politisch zu denken, war es sehr schnell vorbei mit der Amerikabegeisterung und ich fing mir einige böse Rügen ein, wenn ich en passant „Amerika ist doch scheiße!“ fallen ließ.

Es muß so ungefähr im Jahr 2003 gewesen sein, als auch die glühendsten Amerika-Liebhaber in meiner Familie zähneknirschend aufhörten noch Entschuldigungen zu finden.
Ein in New Jersey lebender Onkel weinte, als wir über Bushs Irakpolitik sprachen.
 „What is this guy doing to our country?“

Inzwischen drehen sich die sehnsüchtigen Blicke nach weit über einem Jahrhundert erstmals wieder gen Osten.

Meine Lieblingstante, die zu JFK’s Zeiten als Assistentin im Weißen Haus gearbeitet hatte und heute, 80-Jährig, immer noch glühende Demokratin ist, sagt mir gelegentlich, daß sie nach Europa auswandern würde, wenn sie etwas jünger wäre.

Ein Cousin in Ohio sitzt quasi auf gepackten Koffern und sucht einen Job in Kanada.

Selbst in Deutschland bemerkt man die Fliehkräfte der amerikanischen Gesellschaft.
Während der GWB-Jahre gab es einen regelrechten künstlerischen Exodus gen Berlin, weil so viele unter PATRIOT-Act und Prüderie litten.
Es ist sehr befreiend nicht mehr die BEEP-Laute zu hören, wenn einem ein unsittliches Wort rausrutscht, wenn einem Photographen keine Geldstrafe mehr droht, weil irgendwo ein Nippel zu sehen war.
Auch amerikanische Promis leben heute mit großer Selbstverständlichkeit zeitweilig oder dauerhaft in Europa.
Goldie Hawn oder Robert Redford trifft man inzwischen auch in der Hamburger Innenstadt.
Berliner Juweliere zählen ganz selbstverständlich auch Christopher Lee oder Brad Pitt zu ihren Kunden.
Rufus Wainright und Helen Schneider haben Wohnungen in Berlin.
Beim Lebensmittelgroßeinkauf wundere ich mich oft darüber wie viele ganz junge Leute ich amerikanisch sprechen höre.

Angenehmerweise sind die Amerikaner, die man in Deutschland trifft generell eher die aufgeschlosseneren und schlaueren Mitbürger. Logisch, denn die konservativen Rednecks und fundamentalistischen Teabagger würden ja niemals Gods Own Country verlassen, um das sozialistische Europa zu besuchen, wo es auf den Straßen von Schwulen, Atheisten und Schlimmeren wimmelt.

John Irving, der auch gerade in Deutschland weilt ist sauer.
[…] "Bei jeder Wahl ärgere ich mich mehr über meine Partei als über die Opposition", sagte der Bestsellerautor […] Der als liberal bekannte Schriftsteller findet harte Worte für den politischen Gegner: "Ich weiß, dass die Republikaner lügen und worüber. Sie überraschen mich nicht, weil sie es so machen wie immer: Wenn sie unter sich sind, können sie gar nicht laut genug tönen. Aber wenn sie in der Öffentlichkeit reden, haben sie plötzlich nichts mehr zu sagen, sie verstecken sich. Und warum? Weil sie nicht wollen, dass du etwas über ihre drakonische Haltung zum Abtreibungsrecht erfährst, weil sie nicht wollen, dass du etwas über ihre drakonische, Dinosaurier-hafte Haltung zu Schwulenrechten weißt."
Gleichzeitig, so Irving, sei es "verstörend", wie es den US-Demokraten mehr und mehr peinlich sei, sich für liberale Themen stark zu machen. "Bill Clinton war kein Liberaler. Ich habe ihn gewählt, ich mag ihn, er ist ein guter Mann. Aber er ist kein Liberaler nach meiner Definition, er ist der Mitte viel näher als ich. Und Obama ist sogar noch näher an der Mitte als Clinton. Auch Obama ist ein guter Mann, und ich will, dass er gewinnt. Aber er ist ein Zentrist, ein Mann der Mitte" […]
Die Hasenfüßigkeit der Demokraten und die Unaufrichtigkeit der Republikaner sind aus der Sicht des 70-jährigen Schriftstellers jedoch eher Symptome als Ursache - der geringe Bildungsstand seiner Mitbürger sei das eigentliche Problem. Ihn ängstige die hohe Zahl von Leuten, die gar kein Interesse haben dürften, die Republikaner zu wählen, aber von ihnen an der Nase herumgeführt würden. "Es gäbe gar keine republikanische Partei in den USA, wenn die Republikaner nicht immer wieder in der Lage wären, Leute gegen ihr ureigenstes Interesse für sich zu gewinnen. […] Die Mehrheit der Leute, die Romney wählen, schießt sich damit in den eigenen Fuß."
 Das exterritoriale Amerika ist freundlich.

Am liebsten würde ich das ganze amerikanische Amerika ignorieren und mich um die augenblicklich stattfindende Präsidentschaftswahl nicht kümmern.

Leider geht das aber nicht, weil Amerika erstens nach wie vor ungeheuer mächtig ist und mir, zweitens, all die in den USA Lebenden leidtun, die genauso entsetzt und abgestoßen von der GOP sind, wie ich.

Es ist eben nicht egal, welche Clique gerade im Weißen Haus hockt.
Fanatisierte Lügner wie Ryan und Romney sollten niemals den Koffer mit den "nuclear codes" in die Hand bekommen, während es überall in der Welt zischt und brodelt.
Man stelle sich nur vor, was uns womöglich erspart geblieben wäre, wenn 2000 der Kandidat mit den meisten Stimmen US-Präsident geworden wäre. 

Hätte Al Gore auch so radikal den Umweltschutz behindert, die Milliardäre beglückt, die Finanzspekulanten von der Kette gelassen und ein paar illegale Kriege angefangen?

Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich gewinnt nicht der grundsätzlich lügende Vollidiot Mitt Romney.

Da die Wahllokale aber in wenigen Stunden schließen, ist es für mich ziemlich sinnlos all die gebookmarkten Prognosen zu lesen oder mich hinter den dutzenden Zeitungsartikeln zum Thema vergraben, die hier um mich herum gestapelt sind.

Was man aber jetzt schon beklagen kann, ist die traurige Tatsache, daß Aufrichtigkeit und Anstand endgültig ausgedient haben. 

Amerikaner wollen von ihren Führern verarscht und belogen werden.
Kein Kandidat war in diesem US-Wahlkampf ehrlich zum Bürger. Daran sind die in vieler Hinsicht so großartigen Amerikaner selbst schuld - sie wollen belogen werden.
[Obama], der Amerika von George W. Bush erlöste, hat sich Bush-Taktiken bedient - der 2004 lieber seinen Herausforderer John Kerry demontierte, statt über seine umstrittene Bilanz zu reden. Und auch Obama, der Wahlkämpfer, begann die harten Realitäten zu verschweigen, denen Amerika sich stellen müsste.
Dass der Demokrat gegen einen prinzipienlosen Rivalen antritt, der viel Kritik verdiente, macht die Sache nicht besser. Man kann die Schuld für diese traurige Evolution Barack Obama geben. Man kann sie aber auch den Amerikanern geben. Denn diese wollen, und das klingt hart, belogen werden. Einen Politiker, der dies nicht tut, würden sie schlicht nicht wählen.
Stellen wir uns einmal vor, Obama hätte die Bewerbung für seine Wiederwahl so begonnen: "Hört her, unsere Schulen zählen weltweit nicht mehr zu den Top Ten, jede vierte unserer Brücken wackelt, unsere Kinder sterben häufiger und unsere Alten früher, obwohl wir doppelt so viel für unser Gesundheitssystem ausgeben als etwa Deutschland. Wir bereiten uns so schlecht auf einen Hurrikan vor, dass Millionen New Yorker tagelang im Dunkeln sitzen. Und unsere Schnellzüge ruckeln kaum schneller als Vorortzüge in China. Wir müssen neu anfangen."
Kurzum: Er hätte gesagt, dass Amerika nicht mehr in jeder Hinsicht das großartigste Land der Erde ist, sondern wie jede andere Nation ein "work in progress".
 Ein Präsident hat sich dies einmal getraut, Jimmy Carter. Der Demokrat redete der Nation 1979 ins Gewissen, sie müsste ihren Energiekonsum ändern. Die Amerikaner mochten es nicht hören. Sie spotteten über Carters Miesmacherei - und jagten ihn aus dem Amt.
[…] Amerika, dieses großartige Land, wollte immer mehr sein, eine Staat gewordene Idee. Seine Gründerväter beschworen einst "common sense", gesunden Menschenverstand. Heute strafen die Bürger jeden Politiker gnadenlos ab, wenn er pragmatisch Unpopuläres durchsetzt. Schlimmer noch: Es reicht sogar, wenn ein Kandidat nur über Unpopuläres redet. Über die Wahrheit zum Beispiel.
 Amerika ist erbärmlich geworden.

Immer eindringlicher warnen Reisführer davor bloß kein kritisches oder gar vergleichendes Wort über Amerika zu verlieren.
(US-Reise-Knigge hier)
Die amerikanischen Amerikaner sind so ungeheuer stolz auf ihre Nation, daß die Realität längst zu einer Fiktion von Ausländern und Sozialisten geworden ist. 
Wer einen GOPer mit so etwas schmutzigen wie der Wirklichkeit konfrontiert, kriegt gleich auf’s Maul.
Wer dennoch Mitleid mit den konservativen Amis hat, sollte so freundlich sein, ihnen eine Niederlage zu gönnen.

Die Republikaner brauchen die Niederlage.
Politik in den USA ist traditionell viel brutaler als im konsensbemühten Europa. Aber die Extremisten auf der Rechten haben dem Land einen Glaubenskrieg neuer Dimension aufgezwungen. Ein Sieg Romneys würde sie für ihre Blockadepolitik belohnen - und so selbst den Republikanern schaden.
[…] Die politischen Extremisten auf der Rechten haben das Klima vergiftet, die Spaltung verstärkt und dem Land einen Glaubenskrieg aufgezwungen, der Amerika schadet. Die USA sind grotesk verschuldet, ihr Haushalt ist blockiert, die Steuergesetzgebungen sind verrottet, das Ausgabensystem ist aus dem Lot.
Muss man deswegen Romney den Sieg wünschen, nur weil er vielleicht die Meute besser an der Leine führen kann und damit die USA wieder handlungsfähig macht? Besser nicht. Man würde die Blockade der letzten zwei Jahre nur belohnen und sich dem Terror des Geschreis beugen. Die Republikaner brauchen die Niederlage, weil nur so der moderate Teil der Partei gegen den dröhnenden rechten Rand eine Chance auf Behauptung hat.