Montag, 30. April 2012

Personal-Primat, nein danke?




Das war mal eine gute Idee, als der Spiegel vor Jahrzehnten damit begann seine Artikel namentlich zu kennzeichnen.

Ich schätze den Meinungsjournalismus sehr und lese am liebsten die politischen Kommentare und Kolumnen in den Zeitungen und Wochenblättern.
Da wird man mit der Zeit so richtig warm mit der Redaktion, wenn man die einzelnen Schreiberlinge einschätzen, schätzen und geringschätzen kann.

Wenn einer meiner Lieblinge einen Meinungsartikel unterschrieben hat, freue ich mich gleich schon mal.
Und außerdem spart die Namenskennzeichnung Zeit, weil man aussortieren kann.
 Ich meine zwar, daß man unbedingt auch Artikel lesen muß, die der eigenen Auffassung widersprechen, aber einige Schreiberlinge sind einfach zu doof, zu einseitig und zu vorhersehbar, um sich das anzutun.
Jan Fleischauer von Spiegel-online zum Beispiel. 
Seine linken Widerparts Jakob Augstein und Wolfgang Münchau sind hingegen fast immer interessant.
Die beiden mittleren Augsteins sind überhaupt klasse. 

Allerdings ist Franziska, 47, die Kolumnistin bei der Süddeutschen („das politische Buch“), meiner Ansicht nach noch deutlich intelligenter und gebildeter als ihr Halbbruder.
Was sie schreibt, hat immer Hand und Fuß.

Jakob, 44, der löblicherweise Besitzer und Herausgeber der links-alternativen Wochenzeitung „der Freitag“ ist, leistet sich schon eher Meinungen, die ich nicht teilen kann. 
Zum Beispiel stand er im Gegensatz zu Franziska fest an der Seite Stephan Austs und konnte überhaupt nicht verstehen, wieso seine Schwester das Niveau des SPIEGELs für „verflacht“ hielt.

Heute schreibt Jakob Augstein über die Piraten, die er für populistisch im positiven Sinne hält.
 In den Nachbarländern sammelten rechte Populisten wie Frau Le Pen oder Herr Wilders die populistischen Stimmungen ein, während hierzulande ZUM GLÜCK die Piraten das Protestpotential abschöpften und es in ein interessantes Politexperiment metamorphorisierten.

Daß sie damit am Ende Frau Merkel die Macht sicherten, dürfe man aber den Politneulingen nicht vorwerfen.

Es heißt, sie zementierten Merkels Macht und ebneten einer Großen Koalition den Weg. Warum? Weil es in einem Sechs-Parteien-Parlament für Rot-Grün keine Mehrheit gebe. Das ist Polit-Zynismus. Wähler, die die Wahl haben wollen, dürfen nicht ignoriert werden. Wer mit solchen Argumenten gegen die Piraten vorgeht, folgt dem Kalkül genau jener wählerverachtenden Polit-Arithmetik, gegen die früher die Grünen kämpften und gegen die sich jetzt die Piratenpartei wendet.

Augsteins Darstellung stimmt hinten und vorn nicht.

 Wähler haben immer eine Wahl; die fünf „Altparteien“ sind schließlich kein monolithischer Block, von dem sich nur die Piraten unterschieden.
 Außerdem sichern nicht „die Piraten“ Merkel die Macht, sondern die (potentiellen oppositionellen) Wähler, die von Rot und Grün abwandern. 
Das ist auch nicht etwa Zynismus, sondern eine ganz schlichte Tatsache. 
Ursache und Wirkung.
 Jeder, der nicht rot oder grün wählt, macht es Schwarz um eine Stimme leichter an die Kanzlermehrheit zu kommen. 
Das ist zunächst einmal kein Vorwurf, sondern eine schlichte Frage der Mathematik.

Völlig unverständlich ist aber insbesondere der Vorwurf, daß „Polit-Arithmetik“ den Wähler verachtete. 
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wer die Polit-Arithmetik ignoriert, indem er beispielsweise mit roten Stimmen einen schwarzen Kanzler wählt (2005!) oder mit klaren Helmut-Schmidt-Zweitstimmen (von 1980) schließlich Kohl ins Kanzleramt hebt, verhält sich wählerverachtend.

Und wann haben bitte schön, die Grünen gegen Polit-Arithmetik gekämpft?

Heute kann ich Jakob Augstein in seiner piratophilen Altwählerschelte überhaupt nicht folgen: 
Er unterstellt hier immerhin, daß Grüne und Linke den Wählerwillen verachteten und dem Urnenpöbel die Alternativen rauben wollten.
Also, ich habe seit Jahren die newsletter aller Oppositionsparteien abonniert - mir ist noch nie aufgefallen, daß die LINKE-Bundestagsfraktion sich darum bemühte CDU und FDP alternativlos erscheinen zu lassen.
Und selbstverständlich kommen auch von Grünen und der SPD diametral entgegen gesetzte Konzepte zur Regierungspolitik.

In Augsteins Kosmos ist aber offenbar nur Konzeptlosigkeit eine Alternative zu jeder Konzeption.
Schließlich idealisiert der junge Augsteinspross auch noch die augenblickliche Personalnot der Piraten.
Als ob nicht gerade bei FDP, Linken (und gewisser Weise auch bei Grünen und SPD) das Spitzenpersonal derzeit auf Schleudersitzen säße!

Aber bei den Piraten gibt es keine Spur von Führerkult. Im Gegenteil: Politische Geschäftsführerin Marina Weisband, Star der Partei, hat sich auf dem Parteitag in Neumünster zurückgezogen, um ihr Psychologie-Studium in Münster fertig zu machen, und die Amtszeit des Parteichefs bleibt auf ein Jahr begrenzt.

Klaus Ernst und Fipsi Rösler überhaupt mit dem Begriff „Führerkult“ in einen Satz zu bringen, fällt schon schwer. 
Die beiden werden in weiten Teilen ihrer eigenen Partei als Schießbudenfiguren angesehen, die man lieber heute als morgen los wäre. 
 Fest im Sattel sitzt eigentlich nur Frau Merkel. 
Auch die Parteichefs von Grünen und SPD können mitnichten als Führer Personalien bestimmen. 
Beide eiern mit der Idee einer Spitzenkandidaten-Urwahl umher und Frau Nahles hat in der SPD ungefähr die Autorität wie eine Opel-Putzfrau beim CEO von General Motors.

Ob Frau Weisband (eine der Piraten, die ich sogar sehr sympathisch finde) nur wegen ihres Psychologiestudiums den Geschäftsführerposten abgibt, wage ich auch sehr zu bezweifeln. Da gibt es seit vielen Wochen auch ganz andere Gerüchte.

Daß eine so junge Partei wie die Piraten noch keine Persönlichkeiten wie Kohl oder Brandt, die über Dekaden die Parteiführung dominierten, herangezüchtet hat ist auch kein konzeptioneller Ausstieg aus dem Prinzip „Führerkult“, sondern ganz normal für Neulinge. 
Bei Linken und Grünen gab (und gibt) es das in der Anfangsphase genauso.

Selbst in der FDP kann man kaum von Führerkult sprechen; dazu haben sich Bangemann, Lambsdorff, Kinkel und Gerhard viel zu schnell an der Bundesspitze abgelöst.

Noch beeindruckender ist die Länge der Sozi-Vorsitzenden-Liste allein seit der deutschen Vereinigung:

 Hans-Jochen Vogel, Björn Engholm, Johannes Rau kommissarischer Vorsitzender, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Matthias Platzeck, Kurt Beck, Frank-Walter Steinmeier kommissarischer Vorsitzender, Franz Müntefering, Sigmar Gabriel.
Führerkult?

Im Gegensatz zu Augsteins Idealbild von den selbstlosen Kurzzeit-Vorsitzenden, die es nur bei Piraten gäbe, ist die Führungsfigur einer großen Organisation mit Nichten egal. 
Auf sie wird alles projiziert. 

Einen Deppen an der Spitze vertragen weder Daimler-Benz, noch der Vatikan noch die FDP, ohne ziemlich schnell zu schrumpfen.

Ich prophezeie hiermit, daß der neue Oberpirat Bernd Schlömer auch keine irrelevante Projektionsfläche sein wird, sondern eine Person, die als Symbol der jüngsten Partei eine Menge Leute ernüchtern wird.

Ich gebe zu; bis vor ein paar Tagen kannte ich den Namen Schlömer auch noch nicht. 
Aber nun wird man auf ihn achten.

Und wäre ich Piraten-Fan, würde mir nach den ersten Beschreibungen des Neuen in der Runde der Parteivorsitzenden ganz schön mulmig.

We’ll see. 
Vielleicht überrascht mich Schlömer ja auch positiv.

Aber zunächst einmal senke ich meine Daumen:

Schlömer, 41, Katholik, ist Regierungsdirektor im Verteidigungsministerium. Der in Berlin lebende gebürtige Meppener hat Frau und zwei Kinder und ist kerniger Ex-Panzergrenadier.
Auslandseinsätze der Bundeswehr unterstützt er leidenschaftlich und tritt auch für deutsche Waffenexporte ein. (Wahlausschlußkriterium!)

 Die totale Offenheit der Piraten, möchte die von Augstein hochgelobte einzige Politalternative gleich mal einschränken.

Darüber hinaus ist Schlömer kein Vertreter der totalen Transparenz – und damit anschlussfähig an die Maßgaben anderer Parteien. Ein vertrauliches Gespräch müsse etwa in Koalitionsverhandlungen möglich sein, sagte er im Vorfeld des Parteitags dem Tagesspiegel. Spannend wird zu beobachten sein, wie Schlömer sich in dem parteiintern schwelenden Streit um die Bedeutung der Abstimmungssoftware Liquid Feedback verhalten wird: dazu, ob sie weiterhin nur zum Einholen von Meinungsbildern oder als vollgültiges Entscheidungssystem genutzt werden soll.
[…] Nerven könnte er darüber hinaus in der öffentlichen Debatte mit der Sprache des Sozialwissenschaftlers, die bei ihm oft wie ein Versuch wirkt, derartige Zahnlosigkeit zu kaschieren. Denn zwar steht Schlömers kumpeliges Auftreten in angenehmem Kontrast zu dem seines extrem konzilianten Vorgängers Sebastian Nerz. Wer aber Rechtsextremismus in der Partei mit „gesprächsbasiertem Monitoring“ bekämpfen will, darüber hinaus einen „Masterplan“ für den Weg der Partei zur Bundestagswahl 2013 auflegen möchte und zugleich darauf verweist, dass die Programmfindung natürlich ein „Bottom-up-Prozess“ sei, wird früher oder später den Spott der Medien auf sich ziehen. Was Schlömer dann helfen wird: der große Rückhalt in der eigenen Partei.


Dr. Friedrich W. Pohl meinte am  28.04.2012 um 16:52 Folgendes:
Wie kann man so bekloppt sein, und eine Pfeife mit Pseudostudium aus dem Öffentlichen Dienst zum Vorsitzenden wählen?
Da ist doch sofort alle Glaubwürdigkeit dahin! Es geht doch genau darum, diese Staats-Schmarotzer abzuwürgen, oder habe ich da etwas mißverstanden?
Piraten haben fertig. Bereits im Ansatz.

Frank meinte am 28.04.2012 um 21:11 Folgendes:
Das Problem ist nicht sein öffentlicher Dienst – er betreibt und lebt Kriegspropaganda für den Kriegsminister.
Das ist weder sozial noch in irgendeiner Art und Weise neu.
Solange die Piraten so stinkbürgerlich und ideenfrei bleiben – werden sie auch ganz schnell verschwinden – oder zur Ersatz-FDP mutieren…
Gewollt..??
 

Tenkamp meinte am  29.04.2012 um 06:25 Folgendes:
Ja ich finde die Wahl von Herrn Schlömer auch sehr bedenklich, schon hat man wieder Beamte an der Spitze. Und gerade das Beamtentum in Deutschland kostet uns Milliarden und gehört abgeschafft, das wird mit einem Beamten an der Spitze wohl nicht möglich sein überhaupt in diese Richtung zu denken. Es verwundert mich zutiefst das hier soviel Blauäugigkeit im Spiel ist..

hanz meinte am  28.04.2012 um 17:05 Folgendes:
Die Herrschenden haben die Piratenpartei nun endgültig als auch nur halbwegs oppositionelle Kraft liquidiert und sich einverleibt. Neuer Vorsitzender ist ein Militärbürokrat (Mitarbeiter im BMVg). Das ist schon ziemlich widerlich. Widerlich ist auch, dass seine Arbeitsstelle hier verschwiegen wird.

gerhard baumann meinte am  28.04.2012 um 20:10 Folgendes:
Musste es unbedingt einer aus dem Kriegsapparat sein? Und komme mir bitte niemand mit “Der betreut ja nur die Bundeswehrhochschulen”. Damit ist er genau so ein Rad in der Mordmaschienerie.
 
Libertarian meinte am 28.04.2012 um 22:01 Folgendes:
Gibt’s eigentlich schon eine interne Gruppierung “Piraten für Krieg und Imperialismus”. Obwohl, jetzt, da ein Kriegs- und Militarismusprofiteuer mit großer Mehrheit gewählt wurde, ist wohl die gesamte Partei ohnehin auf Linie gebracht.
 
Uwe meinte am 29.04.2012 um 11:55 Folgendes:
Schöne neue EU-Welt..:-)
Während die paramilitärisch gesonnene Machtelite Spaniens das Kommunikationsmedium Internet in Demonstrationsfragen zu “organisierter Kriminalität” erklärt und EU-Aktivisten-abwährend das schengener Grenz-Abkommen ausser Kraft setzt, wählt die e-learning deutsche Polit-Sektion des “europäischen Frühlings” in vorauseilendem EU-Gehorsam dann doch lieber einen DIPLOM-KRIMINOLOGEN im Range eines Regierungsdirektors des bundesdeutschen VERTEIDIGUNGSMINISTERIUMS an ihre Spitze…:-))
P.S:
„Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“